Sie beschuldigt die Türkei, Chemiewaffen einzusetzen und kämpft gegen Folter. Nun soll gegen die Vorsitzende der türkischen Ärztekammer ein Urteil gefällt werden. Wegen Propaganda für eine terroristische Vereinigung.
Dezember 2022: Dutzende Ärzte und Oppositionspolitiker demonstrieren in Istanbul vor dem Justizpalast gegen das Verfahren gegen Sebnem Korur Fincanci, die Vorsitzende der türkischen Ärztekammer. Die Staatsanwaltschaft hat gerade eine Haftstrafe von siebeneinhalb Jahren gefordert. Ihre Verteidigung spricht von einen „Justizskandal“.
Seit Oktober sitzt Fincanci in Haft. Der Vorwurf lautet Propaganda für eine terroristische Vereinigung. Die renommierte Medizinerin hatte in einer Sendung des kurdischen TV-Senders „Medya Haber“ über den mutmaßlichen Einsatz von chemischen Kampfstoffen durch die türkische Armee bei der Invasion in der Kurdenregion des Nordirak gesprochen.
Vorwurf von Chemiewaffeneinsatz
In der Sendung schildert die Medizinerin ihre Eindrücke nach dem Betrachten von Videoaufnahmen, die zwei sterbende PKK-Kämpfer nach dem Kontakt mit toxischen Substanzen zeigten. Fincanci forderte dabei die Aufnahme internationaler und unabhängiger Untersuchungen.
Fincanci kritisierte in der Sendung auch, dass einer Delegation der Ärzteorganisation IPPNW der Zugang in die von türkischen Chemiewaffeneinsätzen betroffenen Regionen verweigert worden sei. Die türkische Regierung weist die Vorwürfe des Einsatzes von Chemiewaffen zurück.
Verhaftung nach Vortrag in Köln
Ende Oktober dann hielt Fincanci in Köln einen Vortrag über die Situation der Menschenrechte in der Türkei. Bei der Regierung in Ankara kam auch das nicht gut an. Trotz einer drohenden Verhaftung kehrte sie danach wieder in die Türkei zurück und wurde bei ihrer Ankunft am 26. Oktober prompt verhaftet.
Fincanci schildert die Haftbedingungen als dramatisch. Trotz eines Leistenbruchs soll sie mit Handschellen gefesselt in einem Bus von einer Haftanstalt in Ankara für den ersten Verhandlungstag nach Istanbul gebracht worden sein. Seitdem sitzt sie dort im Bakirköy-Gefängnis.
„Politisch motiviert“
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International beklagt, dass das Verfahren politisch motiviert sei. Auch die deutsche Bundesärztekammer setzt sich für eine Freilassung von Fincanci ein. Deren Vorsitzender Klaus Reinhardt fordert die Einstellung des Verfahrens und sagt, dass Ärzte sich einmischen sollten, wenn der Verdacht auf Menschenrechtsverletzungen bestehe.
Fincanci selbst gibt sich kämpferisch: „Als Menschenrechtlerin habe ich die Pflicht, die Meinungsfreiheit und das Recht der Öffentlichkeit auf Information zu verteidigen“, sagt sie.
Einsatz gegen Folter
Die 1959 in Istanbul geborene Forensikerin ist auch Vorstandsmitglied der Menschenrechtsstiftung der Türkei und setzt sich seit Jahren gegen Folter in ihrer Heimat ein. 2018 erhielt sie den Hessischen Friedenspreis. Die Ärzteorganisation IPPNW und der Verbund Medical Peace Work verliehen ihr 2011 einen Preis für medizinische Friedensarbeit, unter anderem für ihre Mitarbeit am sogenannten „Istanbul-Protokoll“.
Das Dokument dient als Leitfaden zur Erkennung und Dokumentation von Folter und deren Folgen, unter anderem für die Vereinten Nationen. Die Forensikerin arbeitete auch für den Internationalen Strafgerichtshof und war 1996 an der Exhumierung von Massengräbern und an Autopsien in Bosnien beteiligt.
Seit Jahren staatliche Repressionen
Mit ihrem Engagement für die Aufdeckung von Folterfällen in der Türkei stieß die Forensikerin dort jedoch oft auf Widerstand. Mehrere Male wurde ihr daher der Lehrstuhl für Rechtsmedizin an der Universität Istanbul entzogen.
Schon 2016 wurde sie für zehn Tage festgenommen. 2018 folgte eine zweijährige Haftstrafe, die jedoch vom türkischen Verfassungsgericht als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit bezeichnet und aufgehoben wurde. Der Prozess endete mit einem Freispruch.
Urteil nach nur drei Prozesstagen
Heute soll nun nach nur drei Prozesstagen ein Urteil gesprochen werden. Zudem hat die Staatsanwaltschaft Zivilklage gegen die türkische Ärztekammer erhoben, um eine Neubesetzung des Vorsitzes zu erzwingen.
Vor dem Gericht wird wieder mit Protesten gerechnet. Am ersten Verhandlungstag beendete Sebnem Korur Fincanci ihre Verteidigungsrede mit den Worten des türkischen Dichters Nazim Hikmet: „Das Leben ist eine ernste Angelegenheit.“ Wie ernst es für sie wird, wird sich nun zeigen.
Source : Tages Schau