Erstmals zeigen Bilder, wie brutal China die Minderheit der Uiguren in der Region Xinjiang unterdrückt. Die Aufnahmen sind Teil eines umfassenden Leaks, das der BR mit weiteren Medienpartnern ausgewertet hat.
Mahmud Tohti hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seinen Söhnen und seiner Schwiegertochter. Er vermutet: Sie wurden in einem Internierungslager weggesperrt, Beweise hatte er bisher keine. Der Uigure ist vor Jahren in die Türkei geflüchtet. Nun erfährt er, dass einer seiner Söhne zu mehr als zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Denn sein Name findet sich auf einer Gefangenen-Liste in den „Xinjiang Police Files“ wieder.
Xinjiang ist eine Region im Nordwesten Chinas, in der das mehrheitlich muslimische Turkvolk der Uiguren lebt. Auch der Grund für die Inhaftierung ist vermerkt: Vorbereitung terroristischer Aktivitäten. Tohti weint. „Wie kann er Terrorangriffe planen, wo er doch noch nicht mal weiß, wie man ein Messer hält?“ Er könne seine Liebsten nicht anfassen, nicht umarmen, nicht sehen. „Was ist das für ein Leben?“, fragt er.
Es gebe keine Verfolgung von Uiguren in der Region Xinjiang, betonten chinesische Regierungsvertreter wie Außenminister Wang Yi immer wieder. Die Menschenrechtslage sei so gut wie nie zuvor, die Nationalitäten lebten „in Harmonie“. Bei den Einrichtungen, die westliche Medien als Internierungslager bezeichnen, handle es sich lediglich um Weiterbildungseinrichtungen, deren Besuch freiwillig sei. Doch nun sieht die Weltöffentlichkeit erstmals Bilder, die zeigen, was sich hinter den Mauern dieser Lager abspielt.
Fotos, Dokumente, Namenslisten
Die „Xinjiang Police Files“ sind das größte Leak zu staatlichen Umerziehungslagern in China, das bisher öffentlich gemacht wurde. Enthalten sind Informationen über rund 300.000 durch die Behörden registrierte Chinesen, zum größten Teil Uiguren. Auch Fotos aus dem Inneren des Lagersystems sind Teil des Leaks.
Eine Serie zeigt zum Beispiel, wie mit Holzknüppeln bewaffnete Sicherheitskräfte einen Inhaftierten in Hand- und Fußfesseln abführen. Der Mann trägt einen schwarzen Sack über dem Kopf und sitzt am Ende der Fotoserie in einem sogenannten Tiger Chair – einem speziellen Stuhl, der nach Angaben der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ in chinesischen Gefängnissen zur Folter verwendet wird. Auf anderen Bildern sind Sicherheitskräfte mit Sturmgewehren zu sehen.
In der Autonomieregion Xinjiang wurden nach Einschätzung von Experten zeitweise eine Million Uiguren in Lagern festgehalten. In den vergangenen Jahren gelangten immer wieder interne Regierungsdokumente dazu an die Öffentlichkeit. Seitdem wurden offenbar einige Lager geschlossen, andere bestehen weiter fort.
Nach Einschätzung von Experten verfolgt die Regierung in Peking gegenüber der muslimischen Minderheit eine rigorose Assimilationspolitik. Dieser Kurs wurde seit dem Amtsantritt von Staatspräsident Xi Jinping im Jahr 2013 verschärft, nachdem es zu Unruhen in der Region und zu Terroranschlägen in anderen Teilen Chinas gekommen war.
Folterstuhl und Schießbefehl
Neben tausenden Fotos von Internierten, aufgenommen in der ersten Hälfte des Jahres 2018, umfasst der Datensatz auch Geheimdokumente, Schulungsunterlagen und Transkripte von Reden hoher Parteifunktionäre zum Umgang mit der Volksgruppe der Uiguren.
Für zahlreiche Personen haben die Behörden den Grund der Inhaftierung festgehalten. Ein Mann soll gemeinsam mit seiner Mutter eine Stunde lang eine Audiodatei gehört haben, in der es unter anderem um „religiöse Steuern“ ging: 20 Jahre wegen Vorbereitung einer terroristischen Handlung. Für das Studium religiöser Schriften kam eine andere Person 34 Jahre später ins Gefängnis – für zehn Jahre, wegen Bekehrung und Vorbereitung terroristischer Aktivitäten. 15 Tage in einem Fitness-Center zu trainieren, werteten die Sicherheitsbehörden als Vorbereitung einer terroristischen Handlung: zwölf Jahre Gefängnis.
Aus den „Xinjiang Police Files“ geht hervor, dass es sich bei den vermeintlichen Bildungszentren um hochgradig gesicherte Lager handelt. Anders als die chinesische Regierung behauptet, befinden sich die Inhaftierten dort offenbar keineswegs freiwillig. Fluchtversuche sind den Unterlagen zufolge lebensgefährlich.
Bei einem entsprechenden Vorfall sollten die Aufseher die bewaffnete Kampfgruppe des Lagers anfordern, heißt es darin. Wenn der „Schüler“, wie es im Dokument heißt, den Anweisungen nicht folge, sollten die Sicherheitskräfte einen Warnschuss abgeben. Falls er weiterhin versuche zu fliehen, „wird ihn die bewaffnete Volkspolizei erschießen“.
Anonyme Quelle überließ deutschem China-Forscher Daten
Die „Xinjiang Police Files“ wurden dem deutschen Anthropologen Adrian Zenz von einer anonymen Quelle zugespielt. Nach Angaben des Forschers stammen die Dateien von Computersystemen des Büros für Öffentliche Sicherheit in den Regierungsbezirken Ili und Kashgar in der Region Xinjiang. Die Quelle, die ihre Identität aus Sicherheitsgründen nicht preisgeben wolle, habe sich in die Systeme gehackt und sich danach an ihn gewandt.
Laut Zenz stellte ihm die Person die Daten ohne Bedingungen zur Verfügung, es sei kein Geld geflossen. Zenz war in der Vergangenheit maßgeblich an der Aufdeckung des Lagersystems in Xinjiang beteiligt. Für den China-Experten, der an der „Victims of Communism Memorial Foundation“ in Washington forscht, stellen die „Xinjiang Police Files“ eine „neue Dimension“ dar. Das Bildmaterial sei „einzigartig“ und widerlege „die chinesische Staatspropaganda“, dass es sich um „normale Schulen“ handle.
Eine ausführliche Anfrage zu den Fotos und Dokumenten ließ Chinas Regierung bislang unbeantwortet. In einer offiziellen Stellungnahme ging die chinesische Botschaft in Washington, D.C., nicht auf konkrete Fragen ein, sondern erklärte, die Maßnahmen in Xinjiang richteten sich gegen terroristische Bestrebungen, es gehe nicht um „Menschenrechte oder eine Religion“.
Aufwendige Prüfung durch internationalen Medienverbund
Der China-Forscher machte den Datensatz einem internationalen Verbund aus insgesamt 14 Medienhäusern zugänglich. Zu diesem zählen neben dem Bayerischen Rundfunk, dem „Spiegel“, BBC News und Zeitungen wie „USA Today“, die französische „Le Monde“, der japanische Fernsehsender NHK und das „International Consortium of Investigative Journalists“ (ICIJ).
In einer wochenlangen gemeinsamen Recherche prüfte ein Reporterteam, ob die Daten authentisch sind. Die Reporter machten unter anderem Exil-Uiguren in Istanbul und Amsterdam ausfindig, deren Angehörige seit Jahren verschwunden sind. Ihre Namen und Daten finden sich in einer Liste von Inhaftierten wieder, die in den Dokumenten enthalten ist.
Außerdem konnte das Rechercheteam GPS-Daten aus einem Teil der Fotos auslesen. Sie belegen, dass diese Aufnahmen in der Region Xinjiang gemacht wurden. Andere Fotos konnten die Reporter durch einen Abgleich mit Satellitenbildern einem bestimmten Lager im Kreis Tekes in der Region Xinjiang zuordnen. Sowohl „Spiegel“ als auch BBC News ließen ausgewählte Bilder zudem von IT-Forensikern überprüfen. Die Experten – in Deutschland das Fraunhofer-Instituts für Sichere Informationstechnologie – konnten dabei „keine Hinweise oder Spuren“ finden, „die auf eine Manipulation hinweisen“.
Der Vorsitzende der Delegation des Europäischen Parlaments für die Beziehungen zur Volksrepublik China, Reinhard Bütikofer, fordert angesichts der „Xinjiang Police Files“ neue Sanktionen gegen China. Die Fotos aus dem Leak zeigten „mit dramatischer Deutlichkeit“, womit man es hier zu tun habe, sagte der Grünen-Politiker im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk und dem „Spiegel“. Diese „Bilder des Grauens“ müssten dazu führen, dass die Europäische Union klar Stellung beziehe.
Source : Tages Schau